Keine Sinnfragen bitte, das führt zu nichts; der Weg ist das Ziel!

Keine Sinnfragen bitte, das führt zu nichts; der Weg ist das Ziel! 1024 575 Sintagma | Create. Communicate. Inspire.

Vor über 20 Jahren, während ich als angehende Sprach- und Literaturwissenschaftlerin an meiner Dissertation über das Reisen als Identitätssuche arbeitete, hatte ich die Ehre, den Autor Paul Nizon in Zofingen im Rahmen seiner Lesung zu interviewen. Charmanter, charismatischer Mann! Er gehört zweifellos zu den grossen deutschsprachigen Erzählern unserer Tage. Heute, an einem sonnigen Junitag, ist mir sein Buch «Hund. Beichte am Mittag» (Suhrkamp, 1998) wieder in die Hände gelangt. Nach wie vor gilt für mich: Der Weg ist das Ziel!

Nachfolgend mein Artikel und meine Rezension von damals.


Paul Nizons Monolog eines Clochards über die Entfremdung.

Der seit über zwanzig Jahren in Paris lebende Paul Nizon las Sonntagvormittag im Alten Schützenhaus Zofingen vor aufmerksamem Publikum. Längere Textausschnitte aus seinem neustes Werk «Hund. Beichte am Mittag», das im Herbst 1998 in Buchform erscheinen wird, gestalteten die rund einstündige Autorenlesung. Mit einer wunderbar bildlichen, lebendigen Sprache als Führer katapultierte er die Zuhörer weg von der Scheinexistenz eines Akademikers in die Gegenwartsbewältigung eines Wahlclochards.

 „Ich bin nicht für’s Denken, ich bin für’s Laufen gemacht. Ich lasse mich treiben“. Dies die Worte, die der Schriftsteller dem Ich-Erzähler seines im Herbst 1998 erscheinenden Werkes «Hund. Beichte am Mittag», entlockt. Wahrlich ist das Leben des Essayisten, Kunsthistorikers und Schriftstellers Paul Nizon, 1929 in Bern geboren, geprägt vom unbestimmten Flanieren in abgezirkelten Räumen und dem Zwang zum Ausbruch, vom süchtigen Erkunden von Städten, Landschaften, Wohnräumen. Entscheidende Kostanten eines dialektischen Verhältnisses, die sich in einer bald rauschhaften, bald manierten Sprache in seinen Werken niederschlagen.

Nach dem ersten Roman „Canto“ (1963), seinem schriftstellerischen Durchbruch, kam ein weiteres essentielles Thema hinzu: die Suche nach dem Weiblichen. Ihr verschreibt sich der Stadtvagant, der die bürgerliche, auf Lebensnützlichkeit gerichtete Welt hinter sich lassend, durch die Strassen Roms streunt, der Sinnenlust hingegeben, ohne Absicht, ohne Ziel. Seine provozierend formulierten Essays der Siebziger Jahre wurden nicht nur zum Publikums- und Verkaufserfolg, sondern erschütterten und irritierten die Schweizer Kunst- und Literaturszene mit ihren Reflexionen über die Enge als künstlerische Grundvoraussetzung des Schweizers. Gute Künstler seien immer im Ausland gross geworden; ein typisches Phänomen der Schweiz, meinte Nizon, und setzte sich 1977 definitiv ins Ausland, nach Paris, ab.

Autobiographische Gedanken zur (Schein)-Existenz.
Als „Autobiographie-Fiktionär“ bezeichnete sich Nizon in seinem Essay „Am Schreiben gehen. Frankfurter Vorlesungen“ (1985), in dem er den Schreibprozess, der einer Selbsterschaffung gleichkomme, analysiert. Auch sein neuestes Werk, aus dessen Manuskript der Autor in Zofingen Passagen vortrug, bewegt sich gleichermassen in dieselbe Richtung. Das Buch ist der Monolog eines Clochards, dem unverständlicherweise der Hund als Einziges aus seinem Leben erhalten bleibt. Ganz unerwartet steckt die Strasse dem erfolgreichen Akademiker und Familienvater zwei Botschaften zu. Das Bild eines Geigenkasten kommt aus der Versenkung der Kindheit hervor und die Figuren eines im Café sitzenden Liebespaares, das in ewiger Erstarrung der Liebe erlag, erscheinen ihm wie Verschüttete. „Ich bin immer wieder aus Bindungen weggelaufen, von den besten, stärksten, und bin von meiner Familie weggelaufen – einfach so“, meint der Ich-Erzähler. Einer Scheinexistenz entflohen, mit seinem Hund in inniger Partnerschaft verbunden, lebt er nun auf der Strasse, gleicht einem Unberührbaren, um den die Leute einen Bogen machen. Auf der Strasse ist das Leben voller Verbote.

Von der Entfremdung und vom Traum des Ausbrechens.
Einfach so ist er davongelaufen. Nichts mehr vermag in ihm, dem Bürgerlichen, dem Sesshaften, etwas zu bewegen, ihn zu berühren, in ihn einzudringen, in sein Innerstes. Nicht einmal mehr die momentane Verbindung des Koitus. Die Erkenntnis der Entfremdung vom Partner, von der eigenen Ehefrau, wecken in ihm Träume vom Ausbrechen, sogar vom Hungern. Er steigt aus und trotzdem hält er sich auch im Dunkel der Strasse der Liebe nicht wert. Dem Akademiker, der zum Aussteiger geworden ist, setzt sich ein Schriftsteller auf der Spur. Doch der Wahlclochard will keine „Vita“ hinterlassen, will in der tiefsten Versenkung immer von allem davonlaufen.

Die Worte, mit denen Nizon geschickt die schwankende Ich-Findung des Hauptdarstellers malt, zeugen von seiner Sprachkraft, seiner Fähigkeit, das fortwährende Annähern und Distanzieren von der eigenen Person umzusetzen. Der Autor braucht keine Sensationen, seine Art zu betrachten und zu schildern gibt dem Stoff Kraft. „Ich habe das Dahindämmern satt. Ich habe die Freiheit satt. Ich will mich auf den Weg machen. Ich brauche einen Tapetenwechsel“, lässt Nizon den Erzähler sagen. Auch die Freiheit erlebt dieser als Leere, in die er versinkt, gescheitert an seinen Ansprüchen an das Leben.

Das Buch ist nicht ein Roman, es ist eher ein Bericht der Annäherung und zugleich der Flucht, die nie an ihr Ziel kommt. Die Suche ist die eines Lebens gegen den Tod, ob nun als Aussteiger oder als Schriftsteller. Schreiben ist lebensnotwendig, ist das Leben selbstin Paul Nizons Werk sind sie ein und dasselbe.

Angela Maria Carlucci – Zofinger Tagblatt, 28. Juni 1998

Kurzbeschreibung «Hund. Beichte am Mittag»
Wer sich – in unbeobachteten Momenten – fragt, ob es ein richtiges Leben gebe im falschen, wer morgens brav zur Arbeit dackelt und abends müd nach Hause hechelt der lese Nizons “Hund”, und er wird vom nächsten Heimweg abkommen, und vor allem – auf andere Gedanken. Wer lebt wie Nizons Streuner, den treibt etwas um, und es ist Nizons Erzählkunst, die daraus etwas Bewegendes, fast Wünschenswertes macht: die Geschichte von einem, der sich – anarchischer Hund! – die Ungeheuerlichkeit herausnimmt zu sagen: Keine Sinnfragen bitte, das führt zu nichts; der Weg ist das Ziel!

Angela ist Sprach- und Kommunikationswissenschaftlerin | Autorin, Referentin, Coach | Entrepreneurin
“Ich liebe Sprachen, Kommunikation, das Empowerment von Menschen und setze gerne neue Impulse. Kommunikation ist meine Leidenschaft.” Folgen Sie ihr auf Twitter @angelacarlucci

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